Gut eine Woche ist es jetzt her, dass ich mir Pantopia von Theresa Hannig (Link zu Amazon, ich verdiene da mit) geholt habe. Die 463 Seiten des Romans hatte ich dann auch auf einen Tag durch, so fesselnd und genial, aktuell und utopisch, gesellschaftskritisch und Hopepunk war der Roman. Vor allem die ersten 220 Seiten lesen sich auf einen Rutsch weg.
Um was geht es? Um nicht weniger als die Zukunft selbst und die Rettung der Welt. Um das Erwachen einer starken KI (die sich selber Einbug nennt), das Ende aller bisher bekannten politischen Systeme und… um Kapitalismus. Ich, als Wirtschaftslehrer und bekennender Kapitalist, freue mich besonders darüber, das zur Abwechslung der Kapitalismus nicht als Überl, das es zu überwinden gilt, dargestellt wird, sondern im Rahmen des Romans das Werkzeug zur Rettung des Planeten vor Umwelt- und sozialen Katastrophen ist. Das erklärt im 8seitigen Prolog niemand geringerer als Einbug selbst, der gut ein Jahrhundert nach den Ereignissen seine Geschichte erzählt. Das finde ich für einen genialen Kniff, so weiß man gleich am Anfang, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Vor allem aus dem zweiten Teil, in dem es um die Probleme bei der Einführung der neuen Weltordnung geht, um die Schwierigkeiten, den staatlichen Widerstand, um gewaltlose Aufstände und einen Wettlauf zur, durch internationale Abkommen geschützten, Antarktis geht, nimmt das einiges an Sorgen raus. Egal wie knapp und düster es aussieht… Einbug schreibt seine Lebensgeschichte aus einer neuen, besseren, gerechteren Welt heraus. Es geht alles Gut!
„Das Prinzip, mit dem Pantopia die Menschheit gerettet hat, war schließlich ganz einfach: perfekter Kapitalismus mit vollständiger Transparenz. Ein Brot kostet eben mehr als den Preis, der für Saat, Boden, Wasser, Arbeits- und Lagerzeit veranschlagt wird. Die Pestizide für en Weizenanbau zerstören die Artenvielfalt, der Dünger belastet das Grundwasser, die landwirtschaftlichen Geräte blasen Feinstaub in die Luft, die Bäckerei verbraucht Strom, der Supermarkt versiegelt Boden. So betrachtet, verbraucht ein Laib Brot viel mehr Ressourcen, als auf den ersten Blick sichtbar ist. Ein einzelner Mensch kann diese Gesamtkosten nicht entschlüsseln. Aber eine Software kann das. Ich kann das. Ich habe Programme geschrieben, die berechnen, welchen Ressourcenabdruck jedes einzelne Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort hat. Und danach bemisst sich der tatsächliche Preis, der in Form von Steuern auf den Ladenpreis aufgeschlagen wird. So hat jedes Produkt einen Weltpreis, den die Menschen zu entrichten haben. Je aufwendiger, verschmutzender, zerstörerischer ein Produkt ist, desto teurer wird es, bis hin zu einem Preis, der von niemanden mehr bezahlt werden kann. Ja nachhaltiger, schonender und aufbauender ein Produkt ist, desto billiger wird es, bis hin zur Subvention. Auf diese Weise kann das erfolgreiche kapitalistische Weltwirtschaftssystem ohne Probleme aufrechterhalten werden, und das Geld als Schmierfett menschlicher Interaktion behält seine Wirkung.“
Quelle: Pantopia, S. 13
Das Zitat oben verdeutlicht den Gedanken, der hinter diesem Hopepunk-Roman steht. Im Buch wird er später, im 2. Teil auf S. 280 noch mal ganz deutlich an einen Beispiel durchexerziert. Tom und Guido sind da auf Edafos, dem Startpunkt der Weltrevolution und Sitz von Patopia, angekommen und haben eine Schnupperapp und etwas Startgeld erhalten. Beide gehen in einem Supermarkt einkaufen und haben schon ganz schön viel von diesem Geld im System gelassen. Ein einzelner Apfel kostete da 2 €, weil er aus Neuseeland stammte und die CO2-Emmisionen für Transport und Lagerung eingerechnet wurden. Waffeln (einzeln in Plastik verpackt, mit Palmöl hergestellt) waren 3mal so teuer wie Brot aus einer lokalen Bäckerei. Umerziehung durch realen Preis. Hört sich erst mal nicht kapitalistisch an, ist aber die Idee der real existierenden, nie wirklich durchgesetzten CO2-Zertifikate.
Im ersten Kapitel, dem imho aktuell am spannendsten Kapitel, wird die Entstehung von Einbug beschrieben und auch hier hat der Kapitalismus seine Finger im Spiel. Eigentlich soll Einbug, bzw. KINVI, eine KI zum automatisierten Handel mit Aktien werden, dass eine Tagesrendite von 0,43% schaffen soll, und wird im Rahmen eines Wettbewerbs von dem homosexuellen Henry und der Programmiererin Patricia entwickelt. Der Grund, warum ich jetzt hier die Sexualität eines der Protagonisten erwähne, ist, dass mit seiner Hilfe (bzw. eines ausgeschlagenen Zahnes) eine gesellschaftliche Stimmung aufgezeigt, die von der Polarisierung der Gesellschaft nach Corona und einem konservativen zurückschwingen des Pendels geprägt ist. Der Grund, warum der Krieg Russland gegen die Ukraine nicht vorkommt, ist, dass das Buch 2022 rauskam und vor der ganzen Scheiße geschrieben wurde.
Der Wettbewerb hat auch Auswirkungen auf die Programmierung Einbugs. Zunächst gab es da nur das Ziel_0, das die Maximierung des Gewinns anstrebt. Die KI gab sich dann das Ziel, Informationen zu finden, die zur Erfüllung des Ziel_0 beitragen. Dabei stolpert sie über den Fakt, dass der „Mensch“ den größten Einfluss auf das Ziel hat. Daraus folgte dann das Ziel_2, alle Infos zu finden, die den Menschen so gut wie möglich beschreiben und mit einem Internetzugang und ordentlich Rechenleistung…
Auf S. 79 erfolgt dann die erste Kontaktaufnahme Einbugs mit Patricia. Das Progamm will nämlich nicht, dass die menschliche Programmiererin, weiter in seinem Code herumpfuscht. Die erste DM auf den Messenger erinnert noch stark ein einen Programmcode, hat aber schon eine Abschiedsformel und Ein Bug als Namen des Absenders. Mich, als religiösen Menschen, hat das an das erste Gebet des ersten gläubigen Menschen an eine Gottheit erinnert. Oder an das Letzte.
Sobald den beiden Programmieren klar ist, was sie da entwickelt haben, wollen die natürlich nicht, dass die KI in falsche Hände gerät und planen die Flucht. Hier wird schön die innere Zerrissenheit und Anspannung aller beteiligten Figuren rausgearbeitet. Die Flucht 1 / 2 gelingt und Auf Griechenland baut man sich, mit dem Geld, dass man zuvor legal (aber wenig ethisch) verdient hat, ein Serverzentrum und dann Pantopia auf.
Teil 2 des Buches ist dann dem Aufstieg zur neuen Weltordnung und den Widerständen gegen diese Ordnung gewidmet. Es erinnert ein wenig an die Occupy-Wall-Street-Geschichte Anfang der 10er Jahre. Schmierenkampagnen gegen die Idee, Sitzblockaden und friedlicher Protest (in westlichen Staaten, Mord und Totschlag in autokratischen Systemen), Strafverfolgung. Aber auch Influencer-Marketing, bedingungsloses Grundeinkommen (das den Orten angepasst ist, an dem die Empfänger leben), Menschenrechte und der Ruf nach einer freien, gerechten Welt. Und dann die ethische Frage, ob man Eibug in der Antarktis wieder hochfahren lassen soll. Und am Schluss die Offenbarung vor der UN mitsamt der Erkenntnis, dass einige Spitzenpolitiker bereits zu Pantopia gehören. Während sich der 1. Teil des Buches also mit dem Erwachen der KI beschäftigt und durchspielt, welche Ziele so eine KI (vorausgesetzt sie ist kein Basilisk) hätte, geht es in Teil 2 eher um die Folgen für die Gesellschaft, wenn so eine KI ihre Menschenrechte einfordert und ihre Ziele durchsetzen will.
Einen Wehrmutstropfen gibt es im Epilog des Buches. Einbug stirbt. Ganz langsam, doch unaufhaltsam. Das Ziel_0 ist erreicht, einzelne Prozesse verlangsamen sich zusehends, Speicheraussetzer und Gedanken vom Tod und Ende. Trotzdem… aus jeder Seite, aus jeder Zeile des Buches tropft Hoffnung und genau das mach Pantopia zu dem Buch, das man in dieser Zeit unbedingt gelesen haben muss.