Ich beobachte das ganze schon seit ein paar Monaten. Ähnlich wie Phasmopobia in der Pandemiezeit hat ein kleines Entwicklerstudio gerade einen Trend in der Videospiele(r)-Welt losgetreten. Die Nachfolger- und Nachahmerprodukte fluten gerade den Markt und sogar namhafte Entwickler bauen Elemente dieses Genre in ihre neuesten Spiele ein. Mir ist für dieses Genre noch kein Name untergekommen, also werde ich es jetzt auf „Anomalienfinder“ taufen.
Was sind Anomalienfinder
Anomalienfinder sind Spiele, bei denen die spielende Person ihren Avatar durch einen Gang steuert[1]. Entlang des Ganges sind Bilder, Dinge oder weitere Räume angeordnet. Am Ende des Ganges entscheidet die spielende Person, ob es in diesem Gang eine Veränderung zum 0 Loop (der Normalfall) gab oder nicht. Danach wiederholt sich das Spiel. Zum Gewinnen braucht die spielende Person eine gewisse Anzahl von richtigen Entscheidungen, fehlerhafte Entscheidungen setzen den Fortschritt auf 0 zurück. Die Anomalienfinder sind alles Single-Player-Spiele[2].
Im Grunde also ein sehr einfaches Spielprinzip. Merk dir den Normalzustand, entdecke Abweichungen, wenn sie da sind. Warum dann der Hype um solche Spiele? Weil die Spiele von guten Anomalien leben, mit Psychologie arbeiten und von KI und 3D-Standard-Programmen profitieren.
Das Salz in der Suppe: Die Anomalien
Wichtig bei den Anomalien ist eine Ausgewogenheit zwischen kleinen, versteckten Fieslichkeiten, die nur sehr aufmerksame Spielende entdecken und großen Krachern, bei denen man schon Blind sein muss, wenn man die übersieht.
Das Wichtigste aber ist, dass alle Anomalien… irgendwie verstörend sind. Augen, die einen verfolgen, Bilder, die plötzlich Monstergesichter zeigt, Blutwellen, ein Ausgestopfter Gorilla, der plötzlich lebendig wird und auf den Avatar losgeht, okkulte Symbole, Mannequins, die einen verfolgen, Textbotschaften oder die Farbe von Türen usw. Dabei müssen die Anomalien nicht zwangsweise blutig sein oder ein Jumpscare. Nein. Hautsache verstörend. Als Faustregel bracht man mindestens 3mal so viele Anomalien wie es Durchläufe zum Bestehen des Spieles braucht.
Jetzt schrauben wir den Kopf auf
Bei den Anomalienfindern kommen eine ganze Reihe von Phänomenen zu tragen, die den Reiz dieser Spiele ausmachen.
1 Bestrafungsmechanismus
Das erste Phänomen ist die Spannung, die durch den Bestrafungsmechanismus entsteht. Fehler (also das Nichtentdecken einer Anomalie oder das Reporten einer Normalsituation) werden mit dem Verlust des bisherigen Fortschritts bestraft. Hört sich zunächst nicht schlimm an, aber je weiter man voranschreitet, je näher man dem Ende kommt, desto größer wird die Angst, etwas zu übersehen. Lass dann noch die Verteilung von Anomalien zufallsgeneriert sein und dann zwei Normalzustände hintereinander kommen… Die Anomalienfinder spielen also auf perfide Art und weise mit unserer Fear of missing out, unserer Angst, etwas zu verpassen oder, in diesem Fall, etwas zu übersehen.
2 Anomalien, Sicht und Sound
Nachdem wir schon über die Anomalien geredet haben, lasst uns noch über den Sound und die Sicht in diesen Spielen reden. Bei den meisten Spielen hört man nur das Klackern der Schuhe des Avatars. Sonst nichts. Jedes Geräusch, dass darüber hinaus zu hören ist, ist erstmal ein Hinweis auf eine Anomalie (Ausnahme ist hier Mitnight Duty, bei dem es witzige und verstörende Lautsprecherdurchsagen gibt, die keine Anomalie sind).
Projekt 13 geht in ihren Spielen einen anderen Weg, der Avatar steckt in einem Gefahrstoff-Anzug mit Gasmaske, man hört ständig das gepresste Atmen des Protagonisten und die gedämpften, leicht verzerrten Umgebungsgeräusche. Die Sicht in diesen Anomaliefindern ist, für ein Spielegenre, dass mit seinen verstörenden Anomalien aus dem Bereich Horror kommt, überraschend gut. Bei den meisten Spielen agiert man in hell erleuchteten, nüchtern eingerichteten Umgebungen. Ausnahmen, wie Projekt 13: Taxidermie oder ATTA, gibt es zwar, sind aber im Genre Anomalienfinder echte Nischenprodukte.
Die Kombination Anomalie, Sicht und Sound tragen die verstörende Stimmung. Diese verstörende Stimmung kommt sehr nah an Cosmic Horror, jener Art von Horror, die Lovecraft geprägt hat und vom Erschrecken des Menschen vor seiner Marginalität im Angesichts des Endlosen Kosmos beschreibt. Und genau dieser Horror ist tiefergehend und langfristiger als es jeder Jumpscare oder Splatter je sein könnte.
3 Jäger und Sammler
Der letzte Effekt ist ein ganz primitiver. Wir Spielende sind halt immer noch Urzeitmenschen, ständig auf der Jagd. Auf der Jagd nach Anomalien (wobei uns die uns angeborene Mustererkennung sehr zu gute kommt, ab und zu aber auch Streiche spielt). Und wir sammeln. Im realen Leben, alles, was nicht bei 3 auf den Bäumen ist (manchmal sogar das und die Bäume noch dazu) in dieser Art Spiel Achievements in Form von entdeckten, erlebten und durchgegruselten Anomalien. Dieser Effekt sorgt dafür, dass wir das Spiel nicht nach 5 Minuten, spätestens nach dem ersten erfolgreichen Run zur Seite legen, sondern noch eine Runde spielen, man hat ja noch nicht alle Anomalien gesehen.
DIE ZUKUNFT, DIE ZUKUNFT (Zitat Thaddäus Tentakel)
Dieses Spielegenre wurde durch ein paar interessante Entwicklungen der letzten Jahre ermöglicht. Zum Einen liefern die großen Publisher / Studios nur noch Schrott ab, darum besteht eine Nachfrage an guten Videospielen, die kleine Entwicklerstudios oder einzelne Entwickler über Plattformen wie itsh.io oder steam befriedigen.
Dann ermöglicht KI heutzutage eine einfache und schnelle Generierung von Bildern (und deren Verfremdung für eine Anomalie).
Zu guter Letzt steht mit Unreal 5 und vorher mit Unity grafisch eine Bank da, die die Entwicklung solcher Spiele enorm vereinfachen. Es hat einen Grund, warum Bestimmte Häuser bzw. deren Innenausstattung oder Layout, in verschiedenen Horrorspielen der letzten Jahre aufgetaucht sind.
Diese Entwicklungen werden dafür sorgen, dass wir in Zukunft immer wieder mal die Entstehung neuer Genres erleben werden, aber auch viele Nachahmerprodukte, die in die gleiche Kerbe schlagen, aber wenig neues Gameplay bieten oder gar freche Versuche sind, die Spielenden abzuzocken.
Fazit: Wir surfen mit der Butwelle
Ja, wir surfen grade mit der Welle der Anomaliefinder, wobei ich persönlich das Gefühl habe, dass diese grade bricht und wir kurz nach dem Höhepunkt dieses Genres sind. Es werden noch solche Spiele rauskommen, 2024 wird ihr Jahr sein, aber spätestens im Herbst dürfte ein neues Genre entstehen.
Warum? Weil eben gerade viele Nachahmer (auch von namhaften Studios) auf den Markt kommen und wir beginnen, uns an die Anomalien zu gewöhnen (sprich, wir wissen, worauf wir achten müssen). Trotzdem, ich und meine beiden Mädels finden diese Art Spiele richtig interessant. IMHO lässt sich aber nicht viel fürs Tischrollenspiel rausnehmen. Leider.
[1] Der Youtuber Insym (Grüße gehen raus in die Niederlande!) hat für diese Spiele den Namen Observation Duty Games vorgeschlagen, nach der Spielereihe Observation Duty, bei der es auch um das Auffinden und Melden von Anomalien geht. Ich gehe mit diesem Vorschlag nicht D’Accord, weil man bei Observation Duty die Räume per Kamera überwacht, bei den Anomalienfindern aber sich in der Spielwelt bewegt.
[2] Es gibt nur eine Ausnahme, die auch als Multiplayer gespielt werden kann.